Aus:  

Reuss 2000, Jahrbuch der Luft- und Raumfahrt - German Aerospace Annual, Information, Dokumentation, Adressen, S. 462 ff.  

 

Die Umstrukturierung der Luftfahrt der 

Russischen Föderation

 

Gerhart R. Baum, Elmar Giemulla, Heiko van Schyndel

 

Anfang der Neunziger Jahre wurden die Autoren auf Bitten der russischen Regierung von der deutschen Regierung und der EU-Kommission mit einer Aufgabe betraut, die den Arbeitstitel "Perestroika for Aeroflot" trug. Lange Jahre intensiver und kräftezehrender Beratungstätigkeit (permanente Arbeitssitzungen über einen neuen Luftfahrtkodex, Vorträge in der Staatsduma, Diskussionen mit Militärvertretern und mit dem Vermögenskomitee) folgten, die über weite Strecken eine Dauerpräsenz der Autoren in Rußland erforderlich machten. Hinter der schlichten Bezeichnung "Perestroika for Aeroflot" verbarg sich nämlich nichts geringeres als eine komplette "Neugründung" von Luftfahrtstrukturen in dem wichtigsten Teil des ehemaligen Riesenreiches Sowjetunion. Dessen Strukturen waren - wie jedermann weiß - monopolistisch geprägt. Im Grunde war die Sowjetunion ja nichts anderes als ein gigantischer Großkonzern im staatlichen Gewande. Die Organisation und Durchführung der gesamten Luftfahrt oblag dem Luftfahrtministerium. Hierzu gehörte nicht nur die Vorschriftensetzung, sondern auch der Flugbetrieb, die Flughäfen, die Flugsicherung u. v. a. m. Der Begriff "Aeroflot" war keine eigentliche Firmenbezeichnung, sondern wurde im alten sowjetischen Luftfahrtgesetz nur Synonym für "Luftfahrt in der Sowjetunion" gebraucht. Allein für den Auslandsverkehr wurde die Auslandsabteilung des Ministeriums mit begrenzter juristischer Selbständigkeit ausgestattet und trug für diese Zwecke ebenfalls die Bezeichnung "Aeroflot", was beim westlichen Betrachter den Eindruck erweckte, als gäbe es ein riesiges Unternehmen dieses Namens.
Die wichtigsten Aufgaben der Berater, die hinsichtlich mehr wirtschaftlicher und flugbetrieblicher fragen von Lufthansa Consulting unterstützt wurden, waren angesichts der Zielsetzung, diesen "Großkonzern" in marktwirtschaftlich/rechtstaatliche Strukturen zu überführen, die folgenden:

  • Schaffung eines marktwirtschaftlich orientierten Luftfahrtgesetzes und der dazu gehörigen untergesetzlichen Normen,

  • daraus folgend: Trennung der Staatsfunktionen von betriebswirtschaftlichen/operativen Funktionen,

  • Schaffung selbständiger rechtlicher Einheiten mit klaren, separierten Funktionszuweisungen (Flugbetrieb, Flughäfen etc.),

  • Rolle des Staates in diesen Einheiten. Konkret: Wie hoch muß/darf jeweils der Staatsanteil sein?

  • Die Formulierung einer Luftfahrtpolitik, mit Hilfe derer der Staat erkennen ließ, wie er von dem neu geschaffenen rechtlichen Instrumentarium Gebrauch zu machen gedachte.

In den ersten Jahren nach der Auflösung der Sowjetunion erfolgte die Entwicklung naturgemäß nicht geordnet. Die Schaffung und Durchsetzungsfähigkeit der neuen Rechtsgrundlagen und Strukturen hielt mit dem erdrutschartigen Zerfall der alten Strukturen nicht mit. So stand beispielsweise der sprunghafte Anstieg der "Luftfahrtunternehmen" (zum Teil mit nur einem einzigen, irgendwo angeeigneten Luftfahrzeug) die Hilflosigkeit der Luftfahrtverwaltung gegenüber, diese nach einem sinnvollen System zu zertifizieren. Zu allem Überfluß drohte, daß der Einführung neuer Vorschriften ein verbreiteter Widerwillen der doch recht konservativen russischen Luftfahrt gegenüberstand, "westliche Strukturen" zu übernehmen. Hinzu kam, daß das grundlegende Gesetzesvorhaben zum Luftfahrtgesetz zwischen die Mühlsteine der allgemeinen Politik zu geraten (wie die Vorgänge um die Beschießung des "Weißen Hauses", des damaligen Sitzes der Staatsduma).

Dennoch trat - endlich - am 1. April 1997 das neue Luftfahrtgesetz der Russischen Föderation in Kraft. Nachfolgend sollen die wichtigsten Problemfelder des Gesetzes und der darauf fußenden Umstrukturierung der russischen Luftfahrt dargestellt werden:

1. Die Aufteilung zwischen privatrechtlichen und öffentlich-rechtlichen Funktionen

Die Aufgabenverteilung, wie sie in einer marktwirtschaftlich orientierten Rechtsordnung vorgenommen wird, geht von der Unterscheidung zwischen administrativen Befugnissen (Staatsverwaltung) und operativer Tätigkeit (Privatwirtschaft) vor. Diese Aufgabenverteilung schließt nicht aus, daß der Staat sich an den privatwirtschaftlichen Gesellschaften, die den Luftverkehr ausführen und gewährleisten, beteiligt bzw. sich sogar wegen des hohen Kapitalbedarfs beteiligen muß.

Bei einem derart komplexen Phänomen wie der Luftfahrt in Rußland wäre die Betrachtung, die ordnende Kraft der Marktwirtschaft werde die kleineren Einheiten in ein funktionierendes System zwingen, geradezu naiv gewesen. Zu viele Faktoren und Einflüsse spielten hier eine Rolle, die einen gestaltenden Einfluß des russischen Staates auf längere Sicht noch erforderlich machten und teilweise heute noch machen. Hier seien beispielsweise genannt:

  • Luftfahrt wird in Rußland wegen der räumlichen Dimensionen und der Struktur der sonstigen Verkehrsträger jedenfalls bis auf weiteres eine erhebliche gemeinwirtschaftliche Rolle spielen müssen. Der Staat wird zumindest zugunsten entlegener Regionen reglementierend oder sogar subventionierend tätig werden müssen.

  • Luftfahrt ist bekanntlich ein ausgesprochen kapitalintensiver Wirtschaftszweig. Das gilt für die Zivilluftfahrt in Rußland mit ihren zum großen Teil relativ veralteten Einrichtungen ganz besonders. Wenn Investitionen in solchen Wirtschaftszweigen nicht nur vom Westen ausgehen sollen, ist hier bis auf weiteres der Staat gefordert.

  • Luftfahrt hat in der Russischen Föderation wie in vielen Staaten auch eine staatsrepräsentierende Funktion. Die Luftfahrtpolitik (konkret: über die Ausgestaltung der Luftfahrtabkommen) wird deshalb dafür Sorge tragen, daß Auslandsverkehr nicht nur nach Wettbewerbsgesichtspunkten erfolgt, sondern daß sich heimische Gesellschaften auch unabhängig hiervon neben dem jeweiligen ausländischen Partner behaupten können.

  • Luftfahrt in Rußland wird sich bis auf weiteres realistischerweise nicht völlig vom Einfluß des Militärs befreien können. Diese Tradition ist zu lang, der politische Faktor Militär zu stark und die persönlichen Verbindungen zur Zivilluftfahrt zu eng, als daß eine bloße formale Umstrukturierung hieran sofort etwa ändern könnte.

Für den vorliegenden Zusammenhang mögen die genannten Aspekte belegen, daß die Luftfahrt in Rußland sich nicht ausschließlich nach den Regeln der Marktwirtschaft neu ordnen konnte. Vielmehr hatte der Staat mit Hilfe des Luftfahrtrechts und der Luftfahrtpolitik die Struktur zu skizzieren, in der die neu entstandenen Einheiten ihren Platz finden können.

Danach sollte zunächst - als erster wichtiger Schritt - die bisherige vollständige Eingliederung der operativen Einheiten in die Staatsverwaltung aufgebrochen werden. Hierdurch sollte zum einen größere Flexibilität in den operativen Entscheidungen ermöglicht werden, zum anderen aber auch, die (privatisierten/aktionierten, d. h. organisationsprivatisierten) Unternehmen ausländischen Kapitalgebern zu öffnen.

Wegen des hohen Sicherheitsbedürfnisses in der Luftfahrt müssen Unternehmen die Gewähr dafür bieten, daß sie ihre Aufgaben auch tatsächlich erfüllen können. Aus diesem Grunde bedarf es (als Einschränkung des Grundsatzes der Gewerbefreiheit) der staatlichen Genehmigung für diese Betriebe. Die Voraussetzungen hierfür waren streng zu formulieren. Hinzuweisen ist insbesondere auf die Voraussetzung der "wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit", durch die entsprechend dem europäischen Recht sichergestellt werden soll, daß die Gesellschaften ihre Sicherheitsverpflichtungen auch tatsächlich erfüllen können.

2. Die Aufteilung der privatwirtschaftlichen Funktionen

Die operativen Aufgaben waren privatwirtschaftlichen bzw. privatwirtschaftlich organisierten (nach russischer Terminologie: aktionierten) Unternehmen zuzuweisen. Aber auch innerhalb der operativen Aufgaben war eine Aufteilung der bisher nicht getrennten Funktionen und Funktionsträger notwendig, d. h. dies zunächst die Aufteilung der Funktionen auf die Luftfahrtunternehmen und Flugplätze. Die Zuordnung der Funktionen an verselbständigte Einheiten sollte nicht nur eine Konzentration auf "Kerngeschäfte" bewirken, sondern auch unabhängige Finanzierungskreisläufe schaffen, die die Wirtschaftlichkeit der Unternehmen transparenter machen und gewährleisten, daß Einnahmen nicht in einem "übergeordneten" Budget verschwinden würden - was besonders für potentielle Investoren wichtig ist.

2.1. Luftfahrtunternehmen

Die Unterteilung zwischen Linien_ und Charterverkehr, wie sie in Westeuropa (noch) üblich ist, sollte auch in Rußland zunächst beibehalten werden. Das hatte zur Folge, daß insbesondere auf die Tarife und Kapazitäten im grenzüberschreitenden Verkehr Einfluß genommen werden konnte. Im Zusammenwirken mit einer entsprechenden Abfassung der Luftfahrtabkommen konnte auf diese Weise den (noch) nicht voll konkurrenzfähigen, gerade entstehenden Luftfahrtunternehmen ein gewisser Schutz gewährt werden. Dies ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch eine wichtige Aufgabe des russischen Staates. Der Übergang zur Marktwirtschaft konnte, wie oben gezeigt wurde, nicht abrupt erfolgen. Eine gewisse Reglementierung, wie sie auch in den USA und in Westeuropa jahrzehntelang bestanden hat, sollte deshalb zunächst nicht völlig ausgeschlossen werden.

2.2. Flugplätze

Die Privatisierung der Flughäfen ist für die Einführung der Marktwirtschaft im Luftverkehr nicht zwingend. Auch sonstige Verkehrsträger befinden sich bekanntlich häufig im Staatseigentum (Straßen, Wasserstraßen und Schienenwege). Zu bedenken war allerdings, daß Flughäfen einen besonderen operationellen Aufwand erfordern, wenn sie funktionsfähig sein sollen. Aus diesem Grunde ist ein privates Management (d.h. auch eine private Organisationsform) durchaus sinnvoll. Bezüglich der Flughäfen in Rußland hat sich die russische Regierung daher sinnvollerweise zunächst für eine sogenannte Aktionierung mit ausschließlichem bzw. überwiegendem Staatsanteil entschieden. Der staatliche Anteil kann dabei sowohl in föderaler als auch in regionaler und kommunaler Hand liegen.

Für Anlage und Betrieb eines Flughafens ist nunmehr eine Genehmigung erforderlich, vor deren Erteilung eine Anhörung der betroffenen Bürger erfolgen muß.

Ferner mußte dem Flugplatzbetreiber die Möglichkeit gegeben werden, sich über Gebühren zu finanzieren. Ein entsprechendes Gebührensystem auch für den Inlandsverkehr muß noch geschaffen werden.

3. Die Aufteilung der Aufgaben innerhalb der russischen Luftfahrtverwaltung

Die Struktur der Luftfahrtverwaltung muß, wenn sie effektiv bleiben soll, den geänderten rechtlichen und strukturellen Rahmenbedingungen Rechnung tragen. Diese waren insbesondere gekennzeichnet durch die veränderte Rolle des Staates.

Anders als in der Planwirtschaft trifft der Staat nicht mehr umfassend jede rechtliche, politische und wirtschaftliche Entscheidung. Die Herausbildung selbständiger (zum Teil privater) Einheiten außerhalb der Staatsverwaltung und die Übertragung der wirtschaftlichen Einzelentscheidungen auf diese beläßt beim Staat im wesentlichen Kontroll- und Lenkungsfunktionen. Die Unternehmen bewegen sich zum einen auf der vom Parlament geschaffenen und von der Verwaltung durchzusetzenden rechtlichen Basis, zum anderen gestaltet der Staat den Bewegungsspielraum der Unternehmen auf dieser Basis durch Vorgaben und Planungen aus. Diese "zwei Hände des Staates" ermöglichen und begrenzen gleichzeitig die unternehmerischen Entscheidungen.

In der (Luftfahrt-)Verwaltung sollten deshalb die Funktionen des Staates in:

  • planerische/konzeptionelle/politische Rahmensetzung (Transportministerium) und

  • technischer/sicherheitsrechtlicher Gesetzesvollzug (Department für Lufttransport) unterteilt werden.

Die erste Strukturanpassung in der russischen Verkehrsverwaltung war die einfachste Form einer Integration: Die bisherigen Ministerien (für die einzelnen Verkehrsträger) wurden zu Departments im (formal neu geschaffenen) Transportministerium erklärt, ohne deren politische Funktionen aus ihnen herauszulösen. Da oberhalb dieser Departments gleichzeitig Ministerialstrukturen geschaffen wurden, war eine Verdoppelung und Überschneidung von Zuständigkeiten (Kontraproduktivität) die zwingende Folge.

Die Eigendynamik der im wesentlichen erhalten gebliebenen Strukturen war dabei so groß, daß der über sie gelegte "dünne Schleier" des Ministeriums sie nicht dauerhaft und effektiv beeinflussen konnte. Das Luftfahrtdepartment wurde deshalb wieder ausgegliedert und in den letzten Jahren zweimal umgestaltet, zunächst zum Föderalen Luftfahrtdienst und dann zum Föderalen Dienst für Lufttransporte (im Range eines Ministeriums). Dieser Dienst vereinigt nun wieder die planerische/konzeptionelle/politische Rahmensetzung und den technischen/sicherheitsrechtlichen Gesetzesvollzug.

4. Die Möglichkeit der Aufgabenübertragung auf zwischenstaatliche Institutionen

Auch die Frage der Aufgabenübertragung auf zwischenstaatliche Institutionen hängt mit dem Bedürfnis nach möglichst effektiver und sachgerechter Aufgabenwahrnehmung zusammen. Dieses Bedürfnis kann auch (statt zu einer Regionalisierung) zu einer übergreifenden Aufgabenwahrnehmung führen. Welche Aufgaben hiervon in Rußland im einzelnen betroffen sein konnten, war auch eine Frage der politischen Einschätzung und Realisierungsmöglichkeit. Von der Sache her bot sich insbesondere die Organisation der Flugsicherung auf den internationalen Verkehrsflughäfen an.

Organisatorisch waren für solche übergeordnete Strukturen die folgenden Modelle zu erwägen:

Supranationale Einrichtung

Bei dieser Organisationsform hätten die beteiligten Staaten zur Wahrnehmung der jeweiligen Aufgabe Hoheitsbefugnisse an die Einrichtung abgegeben. Die Staaten hätten diesen Teil ihrer Hoheitsbefugnisse anschließend nicht mehr selbständig ausüben können. Die Einrichtung selbst würde diese Hoheitsbefugnisse als ihre eigenen ausüben. Die europäische Flugsicherungsorganisation Eurocontrol war in den ersten 21 Jahren nach ihrer Gründung im Jahre 1960 auf diese Weise organisiert.

Es war jedoch von Anfang an fraglich, ob dieses Modell angesichts des starken Souveränitätsbewußtseins der unabhängigen Staaten auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR eine Realisierungschance hat. Ungeachtet dessen wurde eine entsprechende Ermächtigung in das russische Luftfahrtgesetz aufgenommen und - zumindest was die Russische Föderation betrifft - einzelne staatliche Befugnisse (z. B. die Typenzertifizierung) auf das MAK (Interstaatliche Luftfahrtkomitee einiger GUS-Länder) übertragen.

Gemeinsame Institution in Verbindung mit einer Delegierung der Aufgaben bzw. einer Beleihung

Bei dieser Organisationsform übt die zu schaffende gemeinsame Institution keine eigenen, sondern fremde Hoheitsbefugnisse (im Namen der beteiligten Staaten) aus. Die Aufgabenübertragung wird an die Institutionen entweder delegiert (bei öffentlich-rechtlicher Organisation) oder die Institution handelt als sogenannter beliehener Unternehmer (bei privatrechtlicher Organisation). Die privatrechtliche Organisationsform hat den Vorzug, daß sie am staatsfernsten ist und damit am wenigsten den Eindruck einer zentralen Staatseinheit erweckt. Auf der anderen Seite können ihr nach westlichem Rechtsverständnis nur Verwaltungsbefugnisse, aber keine Rechtsetzungsbefugnis übertragen werden. Spezielle Rechtsnormen sind im Luftverkehr allerdings sehr häufig (z.B. zur Umsetzung der Vorschriften in den Anhängen zum Abkommen von Chikago). Da eine einheitliche Verwaltung einheitliche Rechtsnormen voraussetzt, hätte ein zusätzlicher "Ministerrat" installiert werden müssen, in dem diese Fragen diskutiert und ihre Umsetzung verbindlich beschlossen werden können. Hiervon hat man abgesehen.

5. Privatrechtliche Problemfelder

Im Luftverkehrsrecht war es erforderlich, Haftungsregelungen zu treffen, die die Besonderheiten des Luftverkehrs umfassend berücksichtigen. Dabei war zu differenzieren: zwischen Geschädigten,

  • die nicht am Luftverkehr beteiligt waren

  • solchen, die sich im Luftfahrzeug aufgrund eines Beförderungsvertrages befinden und

  • solchen, die ohne einen solchen Vertrag befördert werden.

5.1 Haftung gegenüber nicht am Luftverkehr Beteiligten

Gegenüber nicht am Luftverkehr Beteiligten sollte die Haftung national, wie im Internationalen Recht üblich (vergleiche das Römer Abkommen über Schäden, welche Dritten auf der Erde durch ausländische Luftfahrzeuge zugefügt werden, vom 7. Oktober 1952), als Gefährdungshaftung ausgestaltet werden. Dies bedeutet, daß der Haftende beim Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen auch dann für den Schaden einzustehen hat, wenn sein Verhalten rechtmäßig und nicht schuldhaft war.

Der Gefährdungshaftung liegt allgemein der Gedanke zugrunde, daß die durch den technischen Fortschritt immer gefährlichere Verkehrsanballung für jeden, der sich nicht völlig vom sozialen Leben ausschließen will, zwangsläufig eine Verkehrsteilnahme unter von ihm nicht beherrschbaren Risiken mit sich bringt. Einerseits wird das Gefahrenpotential der Verkehrsmittel und damit Art und Größe der dem Einzelnen drohenden Gefahren immer höher. Andererseits kann er sich umso weniger dem Verkehr entziehen, je mehr dieser um sich greift. Der Einzelne unterliegt gerade in Rußland mit seinen riesigen geographischen Dimensionen einem sozialen Zwang zur Teilnahme an dem so beschaffenen Verkehr. Es fehlt für ihn jede eigene Gestaltungsmöglichkeit und jedes Abwehrrecht gegenüber dem staatlich erlaubten Gefährdungszustand. Hierfür soll ihm im Fall einer Schädigung an seinen wesentlichen Rechtsgütern durch die Gefährdungshaftung ein Ausgleich geschaffen werden. Entsprechend diesen Gedanken knüpft die Gefährdungshaftung nicht daran an, daß ein Rechtsgut durch eine rechtswidrige und schuldhafte Handlung verletzt worden ist, sondern nur daran, daß beim Betrieb der gefährdenden technischen Anlage eines der Rechtsgüter eines Dritten verletzt worden und diesem dadurch ein Schaden entstanden ist. Die Voraussetzungen für ein Eingreifen der Gefährdungshaftung sind damit leichter zu erfüllen, als dies bei dem Regelfall einer culpa-Haftung der Fall wäre.

Gerade für das Luftfahrtrecht bot sich eine Haftungsbegrenzung durch Haftungshöchstbeträge an, da die UdSSR und in ihrer Nachfolge Rußland Vertragsstaat des Römer Haftungsabkommens war bzw. ist. In diesem Abkommen wird die Haftung ebenfalls beschränkt.

5.2 Haftung aus dem Beförderungsvertrag

Im russischen Luftverkehrsrecht war auch die Haftung gegenüber den Passagieren und für die Beschädigung der beförderten Güter neu zu regeln.

Grundsätzlich konnte sich eine solche vertragliche Haftung zwar bereits aus dem allgemeinen Zivilrecht ergeben. Im Luftverkehr sind jedoch eine Reihe von Besonderheiten zu berücksichtigen. So ist zu beachten, daß der russische Gesetzgeber durch das Warschauer Abkommen von 1929, sowie dem zu seiner Ergänzung ergangenen Haager Protokoll von 1955 und dem Zusatzabkommen von Guadalajara von 1961 bezüglich der Haftung bei internationalen Beförderungen im Sinne dieser Abkommen gebunden war. Dort befindet sich in den Art. 17 ff eine genaue und abschließende Regelung der Haftung.
Weiterhin war zu berücksichtigen, daß eine uneingeschränkte Geltung des im Vertragsrecht grundsätzlich geltenden culpa-Prinzipes nicht angemessen ist. Dem Geschädigten wäre es weitgehend unmöglich, dem Beförderer ein schuldhaftes Verhalten nachzuweisen, da er keinerlei Einblick in die Organisation des Luftfahrtbetriebes hat und es ihm, insbesondere mangels technischer Möglichkeiten, nicht möglich ist, eine Schadensursache festzustellen. Würde man uneingeschränkt am culpa-Prinzip festhalten, käme dies einer Rechtsverweigerung gleich.

Eine Anlehnung an die Grundsätze der Gefährdungshaftung war jedoch ebenfalls nicht möglich. Deren Grundgedanken trifft auf Geschädigte, die sich wie die Passagiere aus freien Stücken den Gefahren des Luftverkehrs ausgesetzt haben, nicht zu.

Deshalb wurde hier dem Grunde nach dem culpa-Prinzip gefolgt, dies aber dann erheblich abgeschwächt, indem die Beweislast für das Verschulden vom Geschädigten auf den schädigenden Luftfrachtführer verlagert wurde. Konstruktiv geschieht dies dadurch, daß dessen Haftung zwar Verschulden voraussetzt, letzteres aber grundsätzlich vermutet wird. Dem Schädiger obliegt es dann, diese Vermutung zu widerlegen.

Dies entspricht den Intentionen des Warschauer Abkommen, das die Besonderheiten des Luftverkehrs sachgerecht berücksichtigt. Um die Haftungsregelung im Luftverkehrsrecht nicht zu kompliziert zu gestalten, sollte die Haftung auch bei nicht den Regeln des Warschauer Abkommens unterliegenden Luftbeförderungen in Anlehnung an die im Warschauer Abkommen konstruierte Haftung geregelt werden. Dabei sollte auch bestimmend sein, in welchem Verhältnis die Anwendungsbereiche des nationalen Luftverkehrsrechts und des Warschauer Abkommens zueinander stehen. Das Warschauer Abkommen deckt die weitaus meisten internationalen Beförderungen ab. Dem nationalen Luftverkehrsrecht verbleiben dann neben innerstaatlichen Beförderungen noch solche internationalen Beförderungen, die vom Anwendungsbereich des Warschauer Abkommens nicht erfaßt werden. Bedenkt man des weiteren, daß sich die Rechtslage in Rußland durch die Auflösung des ursprünglichen Vertragsstaates des Warschauer Abkommens - der UdSSR - weiter verkompliziert hat und heute auch eine Reihe innerhalb des ehemaligen Staatsgebietes der UdSSR erfolgender Flüge internationale Beförderungen im Sinne des Warschauer Abkommens sein können, so ist es nur im Interesse der Rechtsanwender, die Haftung bei innerstaatlichen Beförderungen möglichst weitgehend an die des Warschauer Abkommens anzulehnen.

Die Haftungsvorschriften sollten auch bei der Haftung aus dem Beförderungsvertrag eine Beschränkung der Haftung nach Höchstbeträgen bestimmen. Für die Einführung einer derartigen Regel sprachen zunächst die bei der Haftung gegenüber unbeteiligten Dritten bereits genannten Gründe sowie die entsprechenden Haftungshöchstgrenzen im Warschauer Abkommen.
Anders als bei der Haftung gegenüber unbeteiligten Dritten sollte keine Staffelung des Haftungsbetrages nach dem Gewicht des Luftfahrzeuges vorgenommen werden. Es ist für Passagiere unerheblich, wie groß das Luftfahrzeug ist, das verunfallt.

5.3 Haftung gegenüber Personen, die ohne Beförderungsvertrag befördert werden

Die Frage, ob und wie für Personen, die zwar befördert werden, mit denen aber kein wirksamer Beförderungsvertrages geschlossen wurde, bedurfte keiner ausdrücklichen Regelung im Luftverkehrsrecht. Hier bot das neue nationale russische Zivilrecht ausreichende Regelungen.

Für diese Personen ergibt sich eine Haftung (mangels ausdrücklicher Regelung im Spezialgesetz) nur aus den allgemeinen zivilrechtlichen Vorschriften. Dies bedeutet, u. a. auch daß die Beweislast in Sachen Anspruchsgründe bzw. deren Abwehr nicht wie im Falle der Haftung aus Beförderungsvertrag dem Halter des Luftfahrzeuges auferlegt wird, sondern dem ohne Beförderungsvertrag Beförderten bzw. dessen Vertretern.

Gerechtfertigt war diese Vorgehensweise auch aus dem Grundgedanken der Gefährdungshaftung. Diese soll nur demjenigen zugute kommen, der sich den Gefahren der Luftfahrt nicht entziehen kann; nicht aber Personen, die sich aufgrund eines freiwilligen Entschlusses an Bord des Luftfahrzeuges befinden und sich damit den Gefahren des Luftverkehrs willentlich und freiwillig aussetzen.

6. Resumé

Aus juristischer Sicht ist der neue Luftfahrtkodex weit davon entfernt, perfekt zu sein, weil er einerseits in einzelnen Fragen zu detailliert ist, andererseits aber zu viele wichtige Verwaltungsfragen den nachgeordneten Vorschriften überläßt. Trotzdem gibt das Gesetz der russischen Luftfahrt die dringend benötigte marktwirtschaftlich orientierte Basis. Es stattet die russische Regierung mit den rechtlichen Grundlagen für die Trennung der wirtschaftlichen Funktionen von den staatlichen Aufgaben und untermauert damit die vielen wichtigen Reformschritte, die bereits getan wurden.

Potentielle Investoren können davon ausgehen, daß das neue System verhindert, das investiertes Kapital im schwarzen Loch eines Schattenbudgets verschwindet und daß nunmehr auch insofern die Grundlagen für eine moderne und mit westlichen Standards vergleichbare russische Luftfahrt vorhanden sind.